Mit gemischten Gefühlen hat die neue Liste Gigg – Gießen gemeinsam gestalten, die im März erstmals bei der Kommunalwahl in Gießen antreten wird, auf die Aussagen der Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz in ihrem Silvesterinterview mit dem Anzeiger reagiert.
Zum einen sehen sich die Gigg-Vertreter*innen im Hinblick auf die Wahlen bestätigt, dass ihre Kandidatur zwingend erforderlich ist, um ihre Ideen für einen konsequenten Klimaschutz ins Parlament zu tragen und so den Druck auf den Magistrat zu erhöhen.
Auf der anderen Seite war man überrascht, wie viele fragwürdige Aussagen die Oberbürgermeisterin in Bezug auf das Thema Klima getätigt hat, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen.
- So spricht die Oberbürgermeisterin von einer neuen Bilanzierungsmethodik für die Emissionen, indem Gießen als Käseglocke betrachtet wird. Tatsache ist, dass dieses Territorialprinzip alles andere als neu ist – selbst die Stadtwerke Gießen haben schon seit mindestens 2013 ihre CO2-Emissionen nach dieser Methodik berechnet.
- Die Oberbürgermeisterin behauptet zudem, dass Gießen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt und zu anderen Städten schon sehr gut dastehe. Diese pauschale Aussage versucht zu vermitteln, dass Gießen in den vergangenen 30 Jahren in Bezug auf das Klima besonders gut gearbeitet habe. Dies ist jedoch mitnichten der Fall. Zum einen profitiert Gießen davon, dass durch die o. g. Käseglocke wichtige Emissionsfaktoren wie der Tourismus (z. B. der Flugverkehr) nicht in die eigene Bilanz einfließen, und es aufgrund seiner geringen industriellen Produktion in Bezug auf die Erreichung der Klimaneutralität einen großen Vorteil gegenüber anderen Kommunen wie z. B. Wetzlar hat. Wenn man sich darüber hinaus die Entwicklung der pro-Kopf-Emissionen seit 1990 anschaut, steht Gießen in der Reduktion sogar schlechter da als der Bundesdurchschnitt – während die pro-Kopf-Emissionen lt. Gießener Klimabericht von 1990 auf 2019 von 10 t/Einw. auf 7,1 t um 29 % gesunken ist, sind die bundesdeutschen Emissionen im selben Zeitraum lt. Statistischem Bundesamt von 12,5 auf 7,9 t gesunken, d. h. um 35 %! Wahrlich kein Ruhmesblatt für die Stadt, in der Frau Grabe-Bolz seit 12 Jahren die Verantwortung trägt und Grüne in diesem Zeitraum fast immer mitregiert haben.
- Eine grundsätzlich andere Position als die Oberbürgermeisterin vertritt Gigg bei der Beurteilung der Müllverbrennungsanlagen TREA 1 & 2 und ihres Beitrags zum Klimaschutz. Auch wenn deren Strom- und Wärmeproduktion durch das Territorialprinzip bilanziell als emissionsfrei bewertet wird, ist das, was dort verbrannt wird, zu einem relevanten Teil nichts anderes als Öl – nur in der Form gewerblicher Plastikverpackungen, die zum sog. Sekundärbrennstoff aufbereitet wurden. Eine klimaneutrale Stadt darf nach Überzeugung von Gigg nicht dauerhaft davon profitieren, dass immer mehr Öl (ob direkt oder indirekt) verbrannt wird. Die Befeuerung der TREAs mit kunststoffhaltigen Ersatzbrennstoff muss daher so schnell wie möglich beendet werden – es bedarf Strategien, um die Anlagen mit klimaneutralen Brennstoffen zu befeuern oder durch andere Technologien zu ersetzen.
Die Oberbürgermeisterin moniert, dass Ausgleichsflächen außerhalb unserer Stadt nicht in die Bilanz eingerechnet werden und unterstellt damit, dass die Gießener Klimabilanz eigentlich noch besser aussähe als sie es ihrer Meinung nach tut. An dieser Stelle sollte die Oberbürgermeisterin sich vergegenwärtigen, dass die Stadt gerade bei den TREAs bilanziell massiv davon profitiert, da die Emissionen der Herstellung der Kunststoffverpackungen (die dann zum Brennstoff werden) in der Klimabilanz Gießens nicht berücksichtigt werden. - Am wenigsten nachvollziehbar ist jedoch die Antwort der Oberbürgermeisterin auf die Frage, welche Maßnahmen konkret realisiert werden müssten, um das Ziel 2035Null zu erreichen. Nicht eine einzige Idee benennt Frau Grabe-Bolz und verweist stattdessen auf den völlig unzureichenden und deswegen auch in der Öffentlichkeit zurecht kritisierten Klimabericht. „Dass Frau Grabe-Bolz in einem ihrer wichtigsten Interviews des Jahres keinerlei eigene Ideen und Schwerpunkte zur Erreichung der Klimaneutralität präsentiert, ist absolut unbefriedigend,“ so Lutz Hiestermann, einer der beiden Spitzenkandidaten von Gigg. „Eine Oberbürgermeisterin sollte eine solche Gelegenheit viel stärker dazu nutzen, eine klare Richtung vorzugeben, Impulse zu setzen und die Öffentlichkeit für die bevorstehenden Veränderungen zu motivieren. All das vermissen wir in diesem Interview. Die Oberbürgermeisterin sollte sich ein Beispiel an ihrem Heidelberger Amtskollegen Prof. Dr. Würzner nehmen, der gegenüber der Öffentlichkeit immer wieder das klare politische Signal für seine Stadt setzt, allen Herausforderungen zum Trotz bis 2030 klimaneutral werden zu wollen.“
Stattdessen gibt sich Frau Grabe-Bolz hochzufrieden mit der bisherigen Klima-Arbeit ihrer Regierung und Verwaltung, weil „wir alles abgearbeitet haben, was wir uns vorgenommen haben“. „Eine solche Haltung ist natürlich einfach, wenn man sich wenig vornimmt“, so die zweite Spitzenkandidatin, Satu Heiland. „Wir erleben gerade, wie sich der Klimawandel dramatisch beschleunigt und sich das Zeitfenster, um die schlimmsten Folgen noch zu begrenzen, rapide schließt. Daher muss im Vordergrund der politischen Bemühungen das stehen, was erforderlich ist und nicht das, was man sich vorgenommen hat – hier mangelt es dem Magistrat offensichtlich an Ambition,“ so Satu Heiland.
Während Stockholm ankündigt, bis 2025 weltweit die erste bilanziell klimapositive Großstadt zu werden, und auch in Deutschland immer mehr Kommunen noch ehrgeizigere Ziele als Gießen erklären, verweist das Stadtoberhaupt immer und immer wieder auf andere (höhere) Instanzen und deren Entscheidungen, von denen die Erreichung der Klimaneutralitätsverpflichtung abhängig sei. „Damit will die Oberbürgermeisterin ganz bewusst von ihrer eigenen Verantwortung und der der Stadt ablenken,“ ärgert sich Gigg-Kandidatin Elke Koch-Michel. „Statt mit dem Finger auf andere zu zeigen und abzuwarten, hätte Gießen schon längst viel mehr eigene Ansätze entwickeln und umsetzen müssen, um damit auch die übergeordneten Instanzen vor sich herzutreiben,“ so Koch-Michel weiter. Als Beispiel für ein solches Vorgehen könnte Tübingen dienen, das den Status einer Klimaschutzmodellkommune beim Land Baden-Württemberg und beim Bund beantragt hat, um sich weiterreichende Befugnisse und Fördermittel zu sichern.
Die Liste Gigg wird auf ihrer Homepage, die in den nächsten Tagen veröffentlicht werden wird, die Klimaberichte anderer deutscher und weiterer europäischer Städte hinterlegen, um zu zeigen, wie weit Gießen hinter anderen Kommunen zurückbleibt. Darmstadt, Freiburg, Bonn, Tübingen, Karlsruhe, Marburg, Konstanz, Münster, Heidelberg, … alle diese (und viele andere) Städte scheinen Gießen schon Jahre voraus in ihren Bemühungen, angemessene lokale Antworten auf diese zentralen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte zu finden. Dabei hat Gießen mit seinen beiden großen Hochschulen, zahlreichen Forschungseinrichtungen, der höchsten Studierendendichte Deutschlands und einer sehr aktiven lokal engagierten Umweltszene idealen Voraussetzungen, zu einem Vorreiter und Wegweiser im Klimaschutz zu werden. Stattdessen riskiert der Magistrat mit seiner weitgehend einfallslosen Vorgehensweise, dass die Stadt in dieser entscheidenden Zukunftsfrage noch weiter hinter vergleichbare Kommunen zurückfällt.
Gießen kann so viel mehr – nur offensichtlich traut die Oberbürgermeisterin dies unserer Stadt nicht zu!