Einleitung
Cornelia Rösler, die Leiterin des Bereichs Umwelt im Deutschen Institut für Urbanistik schreibt im Vorwort der Difu-Publikation „Klima und Finanzen“ aus dem Jahr 2020 folgendes:
„Die Notwendigkeit des Klimaschutzes ist inzwischen insgesamt in der Öffentlichkeit angekommen. Sein Erfolg in den Kommunen ist jedoch auch abhängig von drei Faktoren: erstens überzeugte und überzeugende Kommunalpolitik, zweitens motivierte und qualifizierte Mitarbeiterschaft und drittens finanzielle Spielräume für Zukunfts-Investitionen in den Klimaschutz.“
In diesem Kapitel wollen wir uns dem dritten Faktor widmen.
Ausgangssituation
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Gießen hatte über lange Zeit erhebliche Probleme mit einem sehr hohen Haushaltsdefizit. Ende 2012 zog die Stadt Gießen die Reißleine und nahm das Angebot des Landes Hessen zur Entschuldung wahr. Über Jahre stand die Stadt anschließend unter dem Rettungsschirm des Landes und konnte so ihre Schuldenlast deutlich zurückführen. Bis zum Beginn der Corona-Krise führten diverse Maßnahmen ie die deutliche Erhöhung der Grundsteuer B oder die Zweitwohnsitzsteuer, die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung mit dem einhergehenden Anstieg des Gewerbesteueraufkommens zu einer deutlichen Entspannung.
Im September 2019 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, den ersten Gießener Bürger*innenantrag anzunehmen und sich dazu zu verpflichten, bis 2035 klimaneutral zu werden. Ein wesentlicher Teil des Antrags und damit auch des Beschlusses lautet, dass die Stadt alle erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen wird, um dieser Verpflichtung nachzukommen. Bei diesen „erforderlichen Mitteln“ handelt es sich natürlich auch und gerade um finanzielle Mittel. Die Finanz und Haushaltspolitik wird demnach eine ganz zentrale Rolle der politischen Arbeit von Gigg in den nächsten Jahren spielen.
In der öffentlichen Diskussion in Gießen wurde die Finanzschwäche vom Magistrat bzw. den ihn tragenden Parteien immer wieder als Grund ins Feld geführt, derentwegen effiziente Klimaschutzmaßnahmen nicht umgesetzt werden konnten. In Anbetracht der sich jeden Tag verschärfenden Klimaproblematik ist eine solche Verhinderungsargumentation schon lange nicht mehr akzeptabel – stattdessen bedarf es auch in Gießen kurz-, mittel- und langfristig erheblich größerer finanzieller Anstrengungen, um die Folgen des Klimawandels zu bekämpfen.
Grundgedanken
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Ganz wesentlich ist im Zusammenhang mit der kommunalen Finanz- und Haushaltspolitik die Differenzierung zwischen kurz- und langfristigen Effekten. Die Kunst einer klimaorientierten Haushaltspolitik wird darin bestehen, die kurzfristigen finanziellen Belastungen nicht zu hoch werden zu lassen und trotzdem den langfristigen Nutzen/die Entlastung für die Stadt sowohl in Bezug auf die Finanzen als auch in Bezug auf das Klima zu maximieren.
Klar ist jedoch in jedem Fall – unterlassener Klimaschutz wird langfristig um ein Vielfaches teurer, als alle Investitionen in Klimaschutz sein können. Laut Umweltbundesamt (UBA) verursacht jede emittierte Tonne CO2e gesellschaftliche Schäden im Wert von 195 €, wenn die Wohlfahrt heutiger Generationen höher gewichtet wird, als die Wohlfahrt zukünftiger Generationen*. Berücksichtigt man die Generationengerechtigkeit, d.h. heutige und zukünftige Generationen werden gleichgestellt, müssen die Schäden laut UBA sogar mit 680€ pro Tonne CO2e bewertet werden. Das “Argument”, Klimaschutz sei zu teuer, greift beim Blick auf diese Zahlen vollständig ins Leere. Da diese Schäden aktuell nicht in den Kalkulationen berücksichtigt werden, bilden diese nicht die wahren Kosten ab.
Für Gigg besteht daher eine erste Konsequenz aus dieser Feststellung darin, dass bei allen kommunalen Projekten künftig mit einem CO2-Schattenpreis gerechnet wird, um die wahren Kosten abzubilden und so zukunftsfähige Entscheidungen treffen zu können, die nicht zulasten nachfolgender Generationen gehen.
Gigg ist darüber hinaus der Überzeugung, dass gut geplante kommunale Klimaschutzmaßnahmen der zentrale Weg der kommenden Jahrzehnte sind, Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte vor Ort zu erzielen und die Lebensqualität in Gießen nachhaltig zu erhöhen. Die Erhöhung der Lebensqualität durch Klimaschutzmaßnahmen ist an verschiedenen anderen Stellen des Programms beschrieben und wird daher an dieser Stelle nicht wiederholt. Aber die Wertschöpfungs- und Beschäftigungseffekte seien an dieser Stelle anhand von Beispielen genannt:
- Thema Energie: Bedarf an (i. d. R. lokalen) Handwerksbetrieben für regenerative Energien, für Sanierungsmaßnahmen, für Heizungsaustausch, etc. – d. h. Schaffung von Arbeitsplätzen, Erhöhung des Gewerbesteueraufkommens
- Dämmmaßnahmen in kommunalen Gebäuden senken die laufenden Kosten für diese
- Werden die dafür notwendigen Mittel über Bürgerfonds, Bürgerenergiegenossenschaften und ähnliche Modelle aufgebracht, verbleibt auch die Wertschöpfung im Bereich der Projektfinanzierung in der Region
*Umweltbundesamt, Methodenkonvention 3.1 zur Ermittlung von Umweltkosten - Kostensätze, Stand 12/2020
Klimaschutzrelevante Investitionen
„Klassische“ Finanzierungsansätze
Üblicherweise werden kommunale Investitionen durch Eigenmittel, Fördermittel oder Kredite finanziert. Die Höhe der bereitgestellten Eigenmittel bzw. der beantragten Fördermittel oder Kredite ist abhängig von den politischen Entscheidungen der Stadtregierung. Klar ist, dass die Mittel schnell deutlich erhöht werden müssen – siehe Einleitung. Wenn eine Stadt wie Gießen es sich leisten kann,
- eine teure Landesgartenschau durchzuführen,
- einen eigenen siebenstelligen Betrag in die Hand zu nehmen, um einen „brutto/netto“- Bahndammdurchstich in der Dammstraße zu finanzieren (der zwar „nice to have“, aber sicher nicht zwingend erforderlich war und ist),
- oder auch einen Mietvertrag zu unterschreiben, der 100 Arbeitsplätze der städtischen Verwaltung für einen jährlich siebenstelligen Betrag in ein neues Gebäude auslagert, ohne die Effekte des Homeoffice (und damit der möglichen Einsparung von Büroarbeitsplätzen) ausreichend zu untersuchen,
sollte auch der Spielraum für ausgeprägte Investitionen in den Klimaschutz gegeben sein. Dabei sind die hohen jährlichen Ausgaben für die Instandsetzung von Straßen und Parkflächen für den PKWVerkehr noch gar nicht berücksichtigt.
Förderung
Neben der Digitalisierung ist der Klimaschutz eines der Themen, für die auf allen Ebenen die meisten öffentlichen Fördermittel zur Verfügung gestellt werden – von der EU bis zum Land Hessen. In der Vergangenheit hat die Stadt Gießen z. B. im Bereich der Verkehrswende nicht immer die Möglichkeiten genutzt, die es gegeben hätte, zum Teil wg. zu geringer eigener Personalressourcen, zum Teil auch wegen des fehlenden inhaltlichen bzw. politischen Interesses. Generell muss es in den kommenden Jahren die Strategie der Stadt Gießen sein, die Fördermöglichkeiten im Klimaschutz optimal auszunutzen. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit einer Förderung deutlich dadurch erhöht, wenn Kommunen neue Wege gehen, neue Ansätze versuchen, mit einem klaren Konzept an die Fördermittelgeber herantreten. Für Gießen bedeutet dies, den Beschluss 2035Null als hervorragende Grundlage zu nutzen, diesen proaktiv konzeptionell mit Leben zu füllen und nicht nur reaktiv auf Rahmenbedingungen und Zielvorgaben von Fördertöpfen zu reagieren.
Alternative Finanzierungsansätze
Die klassischen Finanzierungsansätze können gerade im kommunalen Klimaschutz durch alternative Modelle wie Fonds oder Crowdfunding ergänzt werden. Darüber hinaus kommen natürlich auch Ansätze wie Sponsoring durch Unternehmen oder Bürger*innen in Frage, wodurch auch die Identifikation der einbezogenen Unternehmen und Mitmenschen deutlich gestärkt und gleichzeitig die Akzeptanz für den Klimaschutz vor Ort steigen würde. Das Deutsche Institut für Urbanistik Difu listet folgende Beispiele für alternative Finanzierungsansätze auf, die auch für Gießen sehr interessant:
- Energie-Contracting, bei dem ein Energiedienstleister (Contractor) die Umsetzung von Energiesparmaßnahmen in öffentlichen Gebäuden übernimmt.
- Intracting – es handelt sich hierbei um eine Sonderform des Contracting, das z. B. bei der verwaltungsinternen Finanzierung von Energiesparmaßnahmen im Zusammenhang mit der Modernisierung von kommunalen Liegenschaften zum Einsatz kommt.
- Crowdfunding, bei dem Geld von (vielen) verschiedenen Geldgeber*innen gesammelt wird, um Klimaschutzmaßnahmen (wie z. B. Photovoltaikanlagen auf Schulen) zu finanzieren. Je nach Modell erhalten die Geldgeber*innen eine Rückzahlung auf ihr Investment oder auch nicht-monetäre Gegenleistungen (z. B. die öffentliche Erwähnung des Namens – analog zum Stadttheater, in dem verschiedene Privatpersonen und Unternehmen die Bestuhlung übernommen haben, um die Kosten für das Theater zu senken.)
- Sponsoring, das lokalen Unternehmen die Möglichkeit bietet, ihr Engagement für den Klimaschutz öffentlichkeitswirksam darzustellen.
- Klimaschutzfonds, in denen zweckgebunden Gelder zur Verfügung gestellt werden, die aus unterschiedlichen Quellen kommen können (Konzessionsabgaben, Gewinnanteile von Energieversorgungsunternehmen, Haushaltsmittel der Stadt, Spenden von Bürger*innen und Unternehmen und Vereinen, etc.)
- Energiegenossenschaften, bei denen sich engagierte Bürger*innen zusammenschließen, um PV-Anlagen, Windenergieanlagen oder sonstige Energieeinsparmaßnahmen zu finanzieren. Wichtig bei diesem Ansatz ist es, dass das eingelegte Geld verzinst wird und eine Rendite erwirtschaftet.
Für Gigg ist es daher wesentlich, dass die Stadt die o. g. und weitere alternative Finanzierungsansätze prüft, um möglichst effizient Geldmittel für die Umsetzung der erforderlichen Klimaschutzmaßnahmen zu generieren.
Stadt als Geldanlegerin
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Immer mehr Kommunen beschäftigen sich strategisch mit der Frage, wie sie ihr Geld auch unter Klimagesichtspunkten vernünftig und verantwortbar anlegen können. D. h. sie entwickeln klare Vorgaben, die bei der Anlage zu berücksichtigen sind.
Dabei spielen auch die Möglichkeiten des Divestments, d. h. des bewussten Abzugs von Finanzmitteln aus klimaschädlichen Anlageformen, bzw. des Re-Investments, d. h. des Umlenkens entsprechender Mittel in klimafreundliche Anlagen, eine wachsende Rolle. Was Unternehmen wie dem Norwegischen Pensionsfonds, der schon vor einiger Zeit seinen Rückzug aus allen Anlagen verkündet hat, deren Kohleanteil am Umsatz über 30 % liegt, der Allianz und Axa recht ist, kann einer klimaneutralen Kommune nur billig sein. Dementsprechend muss die Stadt über ihre Stadtwerke nicht nur vollständig aus dem Verkauf von Kohlestrom aussteigen, sie muss auch ihre Anlagen einer entsprechenden Prüfung unterziehen.
Und – die Entwicklung von Divestmentstrategien sind nicht nur moralisch geboten, sie haben auch weitere Vorteile, indem sie Risiken minimieren, einen positiven Einfluss auf die städtische Gesellschaft haben, indem sie die Stadt viel stärker als zentrale Akteure ihrer eigenen Handlungen platziert und wahrnehmbar macht. Damit übt die Stadt auch eine starke Vorbildfunktion für die Einwohner*innen, aber auch die ortsansässigen Unternehmen und Institutionen aus.
Einführung eines Bürger*innenhaushalt
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Wie an verschiedenen anderen Stellen beschrieben, ist es ein wesentliches Ziel von Gigg, die Teilhabe der Gießener*innen an den politischen Entscheidungen zu verbessern bzw. zu erhöhen. Dies gilt auch und gerade für das Thema Finanzen. Ein in vielen Kommunen inzwischen erprobtes Instrumentarium stellt dabei der Bürger*innenhaushalt dar, d. h. die Festlegung einer bestimmten Summe oder eines Anteils am städtischen Haushalt, über deren Verteilung nicht die Stadtverordnetenversammlung berät, sondern die Gießener*innen direkt. Dabei ist das Verfahren der Diskussion in den Kommunen unterschiedlich – sie reicht von der Teilhabe von per Losverfahren ausgewählten Bürger*innen bis hin zu einem von der Stadtverwaltung moderierten Prozess mit offener Beteiligung. Welcher methodische Ansatz der Beste ist, muss in Gießen noch festgelegt werden.
Forderungen von Gigg
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- Alle Haushaltsentscheidungen auf Klimarelevanz unter Berücksichtigung eines angemessenen CO2-Schattenpreises prüfen und diese Beurteilung transparent dokumentieren
- Im Verkehrsbereich: Einführung einer Systematik, die eine klare Zuordnung von Ausgaben und Einnahmen zu einzelnen Verkehrsträgern ermöglicht.
- Konkretes Einwirken auf die Politik der Sparkasse Gießen z. B. im Hinblick auf eine stärkere Verankerung des Klimaschutzes bei der Kreditvergabe, aber auch bei der Anwendung von Divestment- bzw. Re-Investment-Strategien und bei der Erreichung der sparkasseneigenen Klimaziele.
- Zweckbindung von Einnahmen z. B. aus Parkgebühren für den Ausbau der Radinfrastruktur (als zusätzliche Mittel)
- sofern vorgesehen oder tatsächlich realisiert: Geldanlagen der Stadt nur unter Berücksichtigung der Klimaeffekte der Anlage
- Einführung eines Klima-Bürgerhaushalt – es wird ein jährlich steigender Betrag festgelegt, über dessen Verwendung nicht die Stadtverordnetenversammlung, sondern die Bürger*innen online oder persönlich beraten.
- Schaffung einer Stelle in der Verwaltung zur maximalen Ausschöpfung von Fördermitteln auf EU-. Bundes- und Landesebene
- Entwicklung und Umsetzung einer städtischen Strategie zur Stärkung der o. g. alternativen Finanzierungsansätze mit einem klaren Ziel und einem klaren Slogan „z. B. 1 Million für den Gießener Klimaschutz“ – z. B. mit Hilfe eines Gießener Bürger*innenfonds, wie er in München gerade eingeführt werden soll.