Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Bouffier, sehr geehrter Herr Innenminister Beuth, sehr geehrter Herr Landtagspräsident Rhein, sehr geehrter Herr Landeswahlleiter Dr. Kanther,
wir wenden uns heute mit diesem offenen Brief an Sie, da wir der tiefen Überzeugung sind, dass im Zusammenhang mit den bevorstehenden Kommunalwahlen durch die aktuelle Corona-Pandemie in Hessen dringender Handlungsbedarf besteht und wir Sie daher auffordern möchten, die Hessische Kommunalwahl in den Frühsommer 2021 zu verschieben.
Die Corona-Krise hat weite Teile der Welt fest im Griff – heute so fest wie noch nie. Bundeskanzlerin Dr. Merkel und Gesundheitsminister Spahn bereiten die Bevölkerung darauf vor, dass die schlimmsten Wochen noch bevorstehen und Verschärfungen der coronabedingten Maßnahmen wahrscheinlich sind. Unsere Heimatstadt Gießen selbst ist Hotspot – die Inzidenz liegt seit vielen Tagen deutlich über 200. Und genau in dieser Situation soll in den kommenden Wochen eine Kommunalwahl organisiert und durchgeführt werden – eine fast schon surreale Vorstellung.
Wahlen stellen das Herzstück unserer Demokratie dar – der Kampf der verschiedenen Listen und Parteien um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler ist gerade auf der kommunalen Ebene sehr stark geprägt von direkten, persönlichen Kontakten. Demokratie lebt von effektiver und direkter Kommunikation und diese Kommunikation ist aktuell aufgrund der Hygienevorschriften nicht möglich.
Wie soll das aber in Coronazeiten auch gehen? Die Innenstädte sind verwaist und werden in den nächsten Wochen weitgehend verwaist bleiben – die Sinnhaftigkeit von Informationsständen ist dadurch sehr in Frage gestellt. Ein klassischer Wahlkampf, bei dem sich Wahlberechtigte und Kandidierende persönlich über ihre politischen Ansichten austauschen können, ist aktuell kaum realisierbar. Selbst die wenigen Kontakte, die es dennoch geben wird, müssen mit 1,5 m Mindestabstand und Maske erfolgen und werden coronabedingt i. d. R. kurz ausfallen.
Schon die interne Organisation des Wahlkampfs ist per Videokonferenz zwar möglich, aber doch erheblich erschwert und schließt die Teile der Bevölkerung, die nicht IT-affin sind, von der Teilhabe aus. Das Aufhängen von Plakaten, die Verteilung von Wahlkampfmaterial an die Haushalte mit dazugehörigen persönlichen Konversationen – alles in Zeiten der Pandemie mit erheblichen und unkalkulierbaren gesundheitlichen Risiken verbunden, die verständlicherweise nicht alle Menschen auf sich nehmen wollen und die in Zeiten der gewollten Kontaktbeschränkungen auch gesellschaftlich nicht gewollt sind. Natürlich nutzen auch wir sofern sinnvoll virtuelle Möglichkeiten – diese sind jedoch in vielen Fällen nur wenig befriedigende Surrogate.
Wir haben wie viele andere Menschen in Hessen in den vergangenen Monaten und z. T. Jahren viel ehrenamtliche Zeit dafür verwendet, bei den Kommunalwahlen 2021 antreten zu können. Eine Grundbedingung für dieses Engagement war und ist, dass wir die gleichen Chancen haben wie andere Parteien und dass damit der Wahlausgang in erster Linie davon abhängt, wie sehr es uns gelingt, die Gießener Bürgerinnen für unsere Ideen und Überzeugungen zu gewinnen. Diese Ausgangssituation ist so nicht mehr gegeben, die Pandemie verhindert diese Chancengleichheit – für Jede/n wahrnehmbar – weitestgehend. Im Gegensatz zu den etablierten Parteien haben neue Listen einen deutlich höheren Kommunikationsaufwand, um den Wählerinnen ein Gespür für die Inhalte und die handelnden Personen zu geben. Die Parteien sind ihnen hingegen seit Jahren/Jahrzehnten als „Marke“ bekannt, es müssen „nur noch“ Details kommuniziert werden. Dies ist ein Vorteil, den neue Listen nun nicht mehr durch intensive Kontaktarbeit aufholen können.
Bei all diesen Aspekten handelt es sich unserer Überzeugung nach mitnichten um Petitessen – es geht hier um die Substanz unserer Demokratie.
Die Pandemie hat in den vergangenen Monaten auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens massive Veränderungen mit sich gebracht, mit sich bringen müssen. Sie fordert von Bürgerinnen, von Unternehmen und Institutionen Anpassungsbereitschaft und Flexibilität, aber auch von Entscheidungsträgerinnen Mut zu unpopulären Entscheidungen.
So die Prognosen und öffentlich verfügbaren Informationen stimmen, sollten die schlimmsten Wellen der Pandemie bis Frühsommer dieses Jahres vorbei sein. Und auch die Zahl der Impfungen sollte bis dahin auf einem Niveau sein, das es zumindest ermöglicht, einen weitgehend normalen Wahlkampf zu führen und so eine gleiche und gerechte Wahl zu gewährleisten. Auch die ehrenamtlichen Wahlhelferinnen und Wahlhelfer wären dann erheblich geringeren gesundheitlichen Risiken ausgesetzt.
Aus all diesen Gründen bitten wir Sie daher, die Hessischen Kommunalwahlen auf den Frühsommer dieses Jahres zu verschieben und kurzfristig alle erforderlichen Maßnahmen zu
ergreifen, um für die Wahl eine neue Terminierung zu ermöglichen. Wir bitten um schnellstmögliche Antwort auf diese drängende Frage, nicht nur im Interesse unserer auf inhaltlichem Austausch aufbauenden Demokratie, sondern natürlich auch im Sinne unserer aller Gesundheit.
Mit freundlichen Grüßen
Lutz Hiestermann, Satu Heiland und Johannes Rippl
Vorstand der Wählergruppe Gigg – Gießen gemeinsam gestalten
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