Am 4. März wurde er also mit dem Bericht an die Stadtverordnetenversammlung beendet, der Versuch, mit Hilfe eines Akteneinsichtsausschusses des Gießener Stadtparlaments Licht in das Dunkel der finanziellen Vorgänge rund um den Bahndammdurchstich zu bringen. Dieser offensichtlich von vorneherein zum Scheitern verurteilte Versuch bietet Anlass, sich einmal ein paar grundlegende Gedanken über das Verständnis von Transparenz in der Gießener Politik zu machen.
Der breiten Öffentlichkeit sind verschiedene Fakten bereits seit langem bekannt – Brutto/Netto- Verwechselung, horrend gestiegene, viel zu spät kommunizierte Kosten, falsche (viel zu niedrige) Zahlen im Kommunalen Investitionsprogramm etc. Nicht umsonst hatte die Gießener OB die Vorgehensweise der Verwaltung 2018 im Haupt- und Finanzausschuss als „dilettantisch“ und „unprofessionell“ bezeichnet.
Es geht aber darüber hinaus um einen anderen Aspekt, der für die Öffentlichkeit von großem Interesse sein sollte – die Möglichkeit der Kontrolle der Regierung (inkl. Verwaltung) durch das Parlament, mithin dessen originäre Aufgabe in der Gewaltenteilung. Beziehungsweise es geht um die Hebel der Regierung (inkl. Verwaltung und Regierungskoalition), genau diese Kontrolle zu verhindern oder zur verwässern. Da es auf kommunaler Ebene keine Untersuchungsausschüsse gibt, bleibt dem Parlament in komplexen Vorgängen wie dem Bahndammdurchstich als einziger Weg die Möglichkeit eines Akteneinsichtsausschusses, der 2019 eingerichtet wurde.
Nachdem der Ausschuss nun einige Sitzungen lang die Akten einsehen konnte, gibt es offensichtlich sehr unterschiedliche Ansichten über das Ergebnis. Während die ursprünglichem Antragsteller von Linken/Bürgerliste/Piraten dokumentieren, dass die Akten alles andere als vollständig zur Verfügung gestellt wurden, verkündet der Berichterstatter, Gerhard Merz von der SPD, genau dieses. Dabei gilt es, sich die Begründung von Gerhard Merz einmal genauer anzuschauen, der lt. Presse genau zwei Argumente anführt, um die Arbeit des Akteneinsichtsausschusses als erledigt zu betrachten:
- Dem Ausschuss wurden alle zur sorgfältigen Erfüllung seines Auftrags notwendigen Unterlagen zur Verfügung gestellt.
- Die Dezernentin Frau Weigel-Greilich habe zweimal betont, dass es keine weiteren Unterlagen gebe.
Zu Punkt 1: Es müsste doch eigentlich ganz einfach zu beantworten sein: Wurden dem Ausschuss alle Akten vorgelegt oder alle zur sorgfältigen Erfüllung seines Auftrags notwendigen Unterlagen? Diese von Gerhard Merz eingeführte semantische Einschränkung lässt aufhorchen. Als interessierter Bürger würde man doch vermuten, dass es darum gehen muss, alle Akten zur Verfügung zu stellen. Sonst wäre es ja Aufgabe der Verwaltung und der verantwortlichen Dezernentin, d. h. also genau derjenigen, deren Handlung kontrolliert werden soll, zu entscheiden, welche Akten zur sorgfältigen Erfüllung des Auftrags notwendig sind und welche nicht. Wer die ausführlichen Dokumentationen der Antragssteller liest, kann leicht nachvollziehen, dass mitnichten alle Akten zur Verfügung gestellt wurden. Es liegt offensichtlich im originären Interesse der Handelnden, Kontrolle möglichst zu verhindern.
Zu Punkt 2: Noch interessanter ist dabei, dass von Herrn Merz als Hauptzeugin für die Vollständigkeit der Unterlagen ausgerechnet Frau Weigel-Greilich herangezogen wird. Mit anderen Worten: Diejenige, um deren vermeintliches oder tatsächliches Fehlverhalten es in diesem Vorgang auch geht (zumindest ist Frau Weigel-Greilich die oberste Verantwortliche für den Bahndammdurchstich) wird gleichzeitig als Kronzeugin benannt und ihre Aussagen als „Beweis“ dafür herangezogen, dass alles seine Richtigkeit habe, wohl wissend, dass eine andere Wahrheit in diesem Vorgang nicht mehr an die Öffentlichkeit kommen kann, weil niemand außerhalb der Verwaltung jemals wieder diese Akten einsehen kann. Das ist so, als ob Verkehrsminister Andi Scheuer als zentrale Instanz für die Richtigkeit seiner eigenen Aussagen im Untersuchungsausschuss zum Maut-Fiasko angesehen würde.
Was die Glaubwürdigkeit von Frau Weigel-Greilich in diesem Vorgang angeht, sei darauf hingewiesen, dass es eben die damalige Bürgermeisterin war, die 2018 alles getan hat, um die Akteneinsicht von Lebenswertes Gießen e. V. zu verhindern. Genau diese Akteneinsicht hatte der Verein gem. Bürgerbeteiligungssatzung beantragt, weil der Vorgang auf der Vorhabenliste stand. Und was war die Reaktion der damaligen Bürgermeisterin? Sie erklärte das Projekt quasi von einer Sekunde auf die andere als beendet, nahm es Tage nach dem Antrag von Lebenswertes Gießen e. V. von der Vorhabenliste und erklärte dann, dass es keine Akteneinsicht geben könne, weil das Projekt ja nicht mehr auf der Vorhabenliste stehe. Und die drei Regierungsfraktionen SPD, CDU und Grüne ließen ihr das selbstverständlich durchgehen. Genauso wie sie ihr die Begründung gegenüber den Antragsstellern im Parlament durchgehen ließen, dass der Akteneinsichtsausschuss seine Arbeit erst später beginnen könne, weil das Projekt noch nicht beendet sei (sic!).
Wie soll man das damalige Verhalten und auch die aktuelle unvollständige Bereitstellung der Akten im Ausschuss anders interpretieren, als dass da wohl jemand gehörige Angst hat(te), dass die Unterlagen zu einem mehrere Jahre zurückliegenden unerfreulichen Vorgang, der Gießen bundesweit zu fragwürdiger Prominenz verholfen hat, noch mal richtig aufgearbeitet werden?
Die SPD fordert in ihrem aktuellen Wahlprogramm ein Transparenzoffensive mit erweiterten Akteneinsichtsrechten für Bürger*innen. So richtig und wichtig diese Forderung zur Vertrauensbildung zwischen Politik und Öffentlichkeit ist – es gilt jedoch auch hier die alte Lebensweisheit: Nicht an ihren Worten, sondern an ihren Taten sollt ihr sie messen. Glaubwürdigkeit sieht jedenfalls anders aus. Vertrauen zwischen Regierten und Regierenden ist die wesentliche Währung, mit der in der Demokratie bezahlt wird. Der Souverän, d. h. das Volk, verleiht den Regierenden für eine Zeitperiode Macht in der Erwartung, dass diese nicht ausgenutzt wird bzw. dass über die Opposition und die Öffentlichkeit die Möglichkeit besteht, die Machtausübung zu kontrollieren. Wenn diese Kontrolle – sei es im Parlament oder von Bürger*innen – nicht möglich ist, bleibt bei unaufgeklärten Vorgängen wie dem Bahndammdurchstich weit mehr als ein Geschmäckle zurück, mit negativen Folgen für die Glaubwürdigkeit der Politik und die damit für die politische Kultur im Allgemeinen.