Verkehrswende und Förderung des Einzelhandels passen gut zueinander

Lutz Hiestermann, Spitzenkandidat, und Walter Bien, Sprecher für Mobilität der Liste Gigg, nehmen zur Diskussion um Einzelhandel und klimafreundliche Verkehrsentwicklung in Gießen Stellung:

In Gießen hat sich in den letzten Tagen eine Scheindebatte zwischen Befürworter*innen einer Verkehrswende auf der einen und einigen Vertreter*innen des Gießener Einzelhandels bzw. der Immobilienbesitzer der Innenstadt, der IHK Gießen-Friedberg sowie der Parteien CDU, FDP und Freien Wählern auf der anderen Seite entwickelt. Dabei hält dieser insbesondere von den Gegnern der Verkehrswende herbeigeredete Gegensatz einer genaueren Prüfung keinesfalls stand.

Gigg teilt die Kritik der BID-Vertreter*innen an dem viel zu langsamen Agieren des Gießener Magistrats bezüglich einer klimafreundlichen Verkehrsentwicklung. Es ist für einen ehrlichen Diskurs der Thematik allerdings nicht förderlich, dass die BIDs in ihrer Anzeige vom 27. Februar den dafür verantwortlichen Dezernenten Peter Neidel (CDU) nicht einmal nennen, sondern nur SPD und GRÜNE anprangern – und hiermit die eigenen Argumente als mehr schlecht als recht getarnte Wahlkampfhilfe für die CDU entwerten.

Gigg kritisiert jedoch, dass die BID- und Einzelhandels-Sprecher*innen in ihrer Anzeige vom 27. Februar weder die Herausforderungen des Klimawandels benennen, noch mit einem einzigen Wort auf die auch von der CDU mitgetragene Verpflichtung zur Klimaneutralität Gießens bis 2035 eingehen – so als hätte der Einzelhandel keine Rolle bei dieser „Menschheitsaufgabe“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel) zu spielen. Dabei sind sich doch auch die Menschen in Gießen darin einig, dass die Bedrohung unseres heutigen Alltagslebens durch den Klimawandel die größte Herausforderung für die meisten jetzt Lebenden und die kommenden Generationen darstellt. Dies gilt umso mehr, als es – anders als bei der aktuellen Corona-Pandemie – „gegen den Klimawandel keine Impfung geben wird“.

Also geht es darum, die Erreichung der CO2-Reduktionsziele des völkerrechtsverbindlichen Pariser Klimaabkommens jetzt – nicht irgendwann einmal in ferner Zukunft – mit aller Kraft anzustreben. Diese Verantwortung (ebenso wie die massiven Folgen) tragen wir dabei im Übrigen alle – d. h. auch die vermeintlich wirtschaftsfreundlichen Parteien und der Einzelhandel.
Gerade im Verkehrsbereich kann es dabei kein „Weiter so“ mit immer größeren, schwereren und verbrennerbetriebenen Fahrzeugen geben – darin ist sich eine große Mehrheit bis hinein in die Automobilwirtschaft und die neue US-Administration unter Präsident Biden einig. Um die CO2-Emissionen des motorisierten Straßenverkehrs in den nächsten 15 bis 25 Jahren auf Null zu senken, muss die Zahl der per privaten PKWs erledigten Wege – gerade in Städten und Ballungsräumen – massiv reduziert und der verbleibende Rest, der natürlich (u. a. für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei etc.) bestehen bleiben wird, möglichst CO2-neutral gestaltet werden.

National und international gibt es dafür inzwischen viele erfolgreiche Beispiele von Kommunen, die sich auf den Weg in Richtung Verkehrswende gemacht haben. Dass aktive Autoreduzierung bei gleichzeitiger Förderung von Zufußgehen, Radfahren und ÖPNV-Nutzung zu beliebten, florierenden Innenstädten führt, zeigt sich bspw. in Tübingen, Münster oder Bremen, aber ganz besonders in europäischen Städten und Metropolen wie Groningen, Kopenhagen oder Wien, die sich (nicht nur aber auch wg. der Verkehrspolitik und Stadtplanung) zu touristischen Zentren entwickelt haben. So wurde Wien nicht nur mehrmals zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt; auch der unbestritten bestens florierende Einzelhandel bei extrem geringem Autoanteil zeigt, wie beides wunderbar zusammenpassen kann.

Auf der anderen Seite zeigen Beispiele wie Dortmund, Duisburg oder Oberhausen, dass auch vermeintliche Autofahrerparadiese mit sehr hohen Anteilen des Pkw-Verkehrs den Niedergang von Innenstädten mitnichten verhindern – die Ursachen liegen i. d. R. ganz woanders. So bleiben denn auch die Gießener BIDs den Beweis eines drohenden Niedergangs des Einzelhandels in der Gießener Innenstadt durch Autoreduzierung schuldig. Das lässt sich leicht erklären, denn es gibt solche Beispiele aus den letzten Jahrzehnten für deutsche Mittelstädte nicht.

Es hilft also dem wichtigen inhaltlichen Diskurs nicht weiter, wenn die Gegner einer Verkehrswende aus leicht durchschaubaren parteipolitischen Erwägungen Schwarzmalerei betreiben und die ohnehin vorhandenen (und durch Corona sicherlich verschärften) Probleme des Gießener Einzelhandels auf die längst überfälligen Anstrengungen zur Verkehrswende übertragen.

Der Verkehr in Gießen wird sich in den kommenden Jahren massiv verändern – und er wird sich weg vom Auto verändern (müssen). Gleichzeitig ist damit eine aktive Aufwertung der Aufenthalts- und Lebensqualität in ganz Gießen anzustreben; mit viel mehr Platz fürs Flanieren, Radeln und andere CO2-arme Verkehrsformen. Das alles muss auch in den Zielen des kommenden Gießener Verkehrsentwicklungsplans (VEP) festgehalten werden.

Für die weitere Diskussion sind darüber hinaus noch folgende Aspekte wesentlich:

  • Die inhaltliche Auseinandersetzung kann nicht anhand weniger Zahlen über Pkw-Fahrten, Zentralitätszahlen bzw. vermeintliche oder tatsächliche Umsatzanteile aus dem Umland geführt werden, die einer kritischen Überprüfung häufig nicht standhalten – so auch die immer wieder öffentlich getätigte Behauptung der BIDs, dass gerade in der Innenstadt „viele Branchen von ca. 80 (achtzig!) Prozent ihres Umsatzes mit Kunden aus dem weiten Einzugsgebiet leben“. Diese Zahl ist nach Recherchen von Gigg weder aktuell noch belastbar – sie ignoriert sowohl das starke Bevölkerungswachstum Gießens wie auch die extrem gewachsene Bedeutung des Onlinehandels in den letzten Jahren. Hier bedarf es dringend kurzfristig einer transparenten und ebenso aktuellen wie verlässlichen Zahlengrundlage.

    In der Diskussion ist zudem zu berücksichtigen, dass sich die Zahl der Pkws infolge des beabsichtigten Verdrängungseffekts der Radspuren (mehr Radfahrten, weniger Pkw-Fahrten) sowie der Verstetigung der Heimarbeit (weniger Pendlerfahrten) relevant verringern wird und soll.
  • Flankierung der Reduzierung der Pkw-Spuren auf dem Anlagenring durch eine Ausweitung des ÖPNV-Angebots – z. B. durch Einführung eines kostenlosen ÖPNV an Wochenenden (wie Marburg es aktuell einführen möchte) und mit besserer Anbindung an das Umland.

  • Konsequentes Ausnutzen von Potenzialen zur Vermeidung von Pkw-Fahrten – z. B. durch Verstetigung bzw. Ausweitung des Homeoffice und durch aktive Kontaktaufnahme mit den wesentlichen Akteuren wie UKGM, Hochschulen und RP zur konkreten Erhöhung des Anteils des Umweltverbunds am Modal Split.

    Eine aktuelle Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit weist nach, dass 49 Prozent aller abhängig Beschäftigten Mitte Februar ständig oder an manchen Tagen von Hause oder einem anderen frei bestimmten Ort gearbeitet haben. Gegenüber Anfang 2020 hat sich der Anteil der Beschäftigten im Homeoffice damit mehr als verdoppelt, mit entsprechenden Rückgängen bei den Pendlerfahrten.

  • Steigerung der Attraktivität der Gießener Innenstadt durch Öffnung für Kultur, Begegnung, zivilgesellschaftlichen Diskurs – hier ist dem Vorsitzendem des BID Seltersweg uneingeschränkt zuzustimmen, der für die Gießener Innenstadt eine Transformationsnotwendigkeit erkennt. Gegen die Bequemlichkeit des Onlinehandels kann keine noch so autofreundliche Innenstadt ankommen. Vielmehr muss der Besuch der Innenstadt zu einem so angenehmen, bereichernden Erlebnis werden, dass Menschen sich gerne die Zeit für einen Besuch nehmen. Längere Aufenthaltszeiten (auch durch längere Wege) führen erwiesenermaßen zu höheren Umsätzen. Hier hat Gießen im Übrigen als Stadt mit dem niedrigsten Durchschnittsalter Hessens und der höchsten Studierendendichte Deutschlands auch gegenüber Städten wie Wetzlar enorme Vorteile, die von diesen nicht aufgeholt werden können.

Gigg wird sich in der zukünftigen parlamentarischen Arbeit weiter gemeinsam mit den Verkehrsinitiativen für eine echte Verkehrswende einsetzen, die seit vielen Jahren – nicht nur in Gießen – verschlafen wurde.  Die damit verbundene Aufwertung der Aufenthalts- und Lebensqualität in ganz Gießen wird gerade der Innenstadt und damit auch den dortigen Immobilienbesitzern bzw. dem Gießener Einzelhandel zugutekommen.